„Quer durch de Gaade“

Ein Plädoyer für eine kulinarische Erinnerungskultur
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© arnaud 25 | wikimedia commons

Die saarländische Ernährung seit der Nachkriegszeit und was wir daraus lernen können.

Saarland ist Heimat, Heimat ist Kindheit und Kindheit ist Geschmack. Egal, wo ich bin: Mit dem Saarland verbinde ich unweigerlich den Geschmack meiner Kindheit.

 

I. „Bettseicher-Salat“, „Brotsupp“ und „Geheirade“

– wie Klassiker der saarländischen Küche aus der Not heraus entstanden und Teil unseres kollektiven Gedächtnisses wurden

 

Mit einem abgewetzten Bajonett meines Uropas aus dem Ersten Weltkrieg gingen meine Oma und ich gemeinsam „Bettseicher“ – also Löwenzahn – stechen. Aus den jungen intensiven Blättern machten wir Salat, die aromatischen Wurzeln trockneten und vermahlten wir, um diese als Kaffeeersatz zu verwenden, die herzhaften Knospen legten wir in Essig ein und aus den süßen Blütenblättern stellten wir Marmelade her.

Überhaupt versorgte sich meine Oma vorwiegend selbst. Mit dem, was die Natur ihr von sich aus gab und mit dem, was sie selbst anbaute. Stets wurde alles für den kommenden Winter eingeweckt oder auf andere Weise haltbar gemacht.

Geprägt wurde meine Oma dabei nachhaltig von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der sowohl Lebensmittel als auch Geld knapp waren. Den Sunndaachsbrode gab es tatsächlich nur sonntags. Die Woche über kamen neben unserem Bettseicher-Salat, Rappsupp, Brotsupp, Linsesupp, Dibbelabbes, Pannekuche, Geheirade und – wenn ich Glück hatte – Bibbelsches-Bohnesupp und Quetschekuche auf den Tisch. Diese Klassiker der saarländischen Küche sind bis heute im kollektiven Gedächtnis der Saarländer geblieben und werden noch immer von einer Generation an die nächste weitergegeben.

Die saarländische Küche ist geprägt durch den Bergbau, Industrie und Kleinbauern. Die harte Arbeit forderte eine reichhaltige Ernährung, die gleichzeitig kostengünstig sein musste. Gegessen wurde, was man im eigenen Garten anbaute, Milch lieferte die "Bergmannskuh" (Anm. der Redaktion: so wurden scherzhaft die von den Bergleuten gehaltenen Ziegen genannt, die günstig zu halten waren und auch in kleineren Gärten problemlos Platz fanden). In der Nachkriegszeit konnte sich so gerade die saarländische Landbevölkerung mit dem wichtigsten versorgen, während die Städter bis zum wirtschaftlichen Anschluss an Frankreich unter der nachkriegsbedingten Lebensmittelknappheit litten. 

Ähnlich verhält es sich wohl mit jeder Küche: Um in Zeiten der Not nicht zu verhungern, aßen die Franzosen etwa Schnecken und Froschschenkel. Die unter dem Mussolini-Regime in die Gebirge der Lombardei geflüchteten Italiener zauberten aus handgemahlenem Buchweizen und Pilzen aus dem am Fuß des Gebirges gelegenen Waldes polenta taragna e funghi - übrigens auch im Saarland adaptiert in Gestalt von Buchweizenpfannkuchen mit Pilzragout. Die Aufzählung könnte nahezu unbegrenzt fortgeführt werden; für jede Kultur und deren jeweilige Zeiten der Not. Heute gelten diese und viele andere Dinge aus dem pauvre mangent bzw. der cucina povera – oder eben dem Arme-Leute-Essen – sogar als Delikatesse.

Lediglich die „schwarzeholzer Hundsfresser“ haben sich wohl nicht durchsetzen können: Gerüchten zufolge soll eine Familie aus Schwarzenholz die eigenen Hunde verspeist haben, in Zeiten der Not durchaus denkbar, erwiesen ist diese Geschichte jedoch nicht. 

 

II. „Das kummt alles widder…“

- warum wir eine kulinarische Erinnerungskultur brauchen

 

Wenn man den fortdauernden Anstieg der Kosten für Lebensmittel, Energie und die Lebenshaltung überhaupt seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine betrachtet, könnte meine Oma gar nicht so Unrecht damit gehabt haben, als sie immer zu sagen pflegte, „wart’s ab; das kummt alles widder.“: Heutzutage sind bereits Angehörige der sogenannten Mittelschicht gefährlich nahe an der Armutsgefährdungsgrenze, erst recht, wenn sie Kinder und Eigenheim haben.

Was können wir also aus der Esskultur unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern für eine bezahlbare und nachhaltige Zukunft lernen?

 

1. Versorge Dich selbst!

Keinen Garten zu haben ist dabei keine Ausrede: „Bettseicher“ wachsen beispielsweise auch wild. So auch Bärlauch, Brombeer, Holunder und vieles mehr. 

 

2. Kaufe nur regionale und saisonale Produkte ein!

Die „Grumbeeren“ gibt es auch vom ortsansässigen Bauern, am besten gleich nach der jeweiligen Erntezeit. Das ist meist günstig und unterstützt zugleich die saarländische Landwirtschaft. 

 

3. Einmal Fleisch in der Woche genügt – völlig!

Heutzutage wissen wir, dass der übermäßige Verzehr – ohnehin im Vergleich zu den pflanzlichen Grundnahrungsmitteln enorm teuer -tierischer Produkte ungesund ist.

 

4. Verschwende nichts; sei bescheiden und dankbar!

Wenn außer trockenem Brot nichts da ist, mache eben „Brotsupp“.

 

Unsere Vorfahren haben so nicht nur überlebt, sondern auch gelebt, und das ziemlich gut, nämlich körperlich wesentlich aktiver als die meisten Büroangestellten heutzutage und fit bis ins hohe Alter.

 

Meine Oma wurde 96 Jahre alt. Dieser Beitrag ist ihr gewidmet.

 

Passend zum Blogbeitrag: "Die Gääß als Überlebensgarantie"

https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/die-gaeaess-als-ueberlebensgarantie_aid-1315212 (SZ online 13.09.2014)

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